Die Lage verstehen: Fraktion trifft Arbeitskreis freier Träger für Hilfen zur Erziehung

U-förmig angeordnete Tische mit Fraktionsmitgliedern und freien Trägern im Gespräch. Rechts im Hintergrund ein Flipchart mit einigen Notizen.

Manche Probleme sehen von außen so aus, als ob sie einfach zu erklären wären und einfache Lösungen hätten. Die Entwicklung der Kosten der sogenannten “Hilfen zur Erziehung” (HzE) in Halle ist spätestens seit Mitte des letzten Jahrzehnts von vielen Seiten als ein solches Problem gedeutet worden. Wir wollten uns nicht mit einfachen ad-hoc Interpretationen zufrieden geben und haben uns deswegen am 08. Mai 2023 im Rahmen unserer Fraktionssitzung mit dem Arbeitskreis freier Träger für HzE getroffen.

Die Ausgangslage

Im März haben wir von der Stadtverwaltung auf unsere Anfrage eine umfassende statistische Darstellung zur Entwicklung von Fallzahlen und Kosten im Bereich HzE bekommen. Auffällig dabei ist, dass sich die Fallzahlen und die Kosten in den letzten Jahren entkoppelt zu haben scheinen. Beim größten Posten – den HzE für Minderjährige – gab es 2017 beispielsweise 983 stationäre, 89 teilstationäre und 1154 ambulante Fälle. 2022 waren es jeweils 1048, 86 und 1128 Fälle. Die Steigerung der stationären Fälle erfolgte zudem nicht kontinuierlich, sondern sprunghaft 2018/9 und geht seitdem eher wieder zurück. Gleichzeitig stiegen die Transferaufwendungen für HzE für Minderjährige von rund 40 Mio. Euro im Jahr 2017 auf rund 62 Mio. Euro im Jahr 2022, also um mehr als 50 %, wobei Kostensteigerungen in diesem Zeitraum praktisch ausschließlich den stationären Bereich betreffen. Die Personalkosten stadtseitig stiegen (nach einem 18 %igen Kostensprung von 2016 auf 2017) im gleichen Zeitraum nur um rund 100.000 Euro (ca. 3 %). Dies lässt sich auch anhand der durchschnittlichen Fallkosten nachvollziehen, die insbesondere im (teil-)stationären Bereich starken Steigerungen unterlagen. Exemplarisch stehen hierfür die Hilfen nach § 34 SGB VIII, genauer die „klassische“ dauerhafte Heimerziehung, bei welcher sich die Fallkosten von rund 34.000 Euro in 2017 auf rund 49.500 Euro (+ ~33 %) in 2022 gesteigert haben. Die Entwicklung bei den HzE für Volljährige sind vergleichbar.

Kostenaufwuchs

Von Beginn an wurde deutlich, dass diese Runde zwei Ziele hatte: Einerseits wollten unsere Fraktionsmitglieder verstehen, was hinter den Zahlen steckt: Woher kommt dieser Kostenaufwuchs? Welchen Anteil haben dringend notwendige Verbesserungen der Betreuungsschlüssel in den Einrichtungen daran? Ist Halle ein Ausreißer? Andererseits wollten wir auch verstehen, was man auf kommunaler Ebene verbessern kann: Gibt es Stellen an denen es zwischen Jugendamt und freien Trägern hakt? Haben die Träger Verbesserungsvorschläge, die in der Kostendiskussion im Stadtrat bisher untergegangen sind? Im engagierten Austausch wurden all diese Fragen in aller Offenheit besprochen.

Anna Manser von der Halleschen Jugendwerkstatt brachte die Kostendiskussion aus Sicht der Träger auf den Punkt: “Das sind fast alles Personalkosten.” Damit verwies sie darauf, dass die rechtlichen Anforderungen an die Träger gestiegen sind. So geht hier, wie in allen sozialen und gesundheitlichen Berufen, die Entwicklung in Richtung von Mindestpersonalschlüsseln, die die Kosten schnell in die Höhe treiben. Zudem vollziehen die freien Träger die Tarifsteigerungen im öffentlichen Dienst nach, weshalb der bevorstehende Abschluss auch hier Auswirkungen haben wird. Doch 1:1 das Gleiche wie im öffentlichen Dienst – darauf wies beispielsweise Juliane Siegert vom Träger “Bunte Feuer” hin – bekommen die Beschäftigten nicht, denn sie werden nur “angelehnt” an den TVöD bezahlt. Wäre das anders, könnten die Träger die aus ihrer Sicht unterfinanzierten Verwaltungs- und Betriebskosten nicht quersubventionieren. Kathrin Streblow vom Arbeiter-Samariter-Bund zeigte diese Finanzierungslücke auf: 6,40 € pro Tag und Kind für Essen oder 6,25 € für Betriebskosten – das sei nicht viel. Insgesamt, so machten die Träger deutlich, resultieren die Kostensteigerungen an vielen Stellen auch aus einem qualitativen Aufholprozess. Vieles, was früher ging, sei heute mit Blick auf die Schonung der Mitarbeitenden und die Qualität der Betreuung nicht mehr vorstellbar.

Hinzu kommen, auch das wurde in unserem Gespräch deutlich, Regelungen, die schon im Gesundheits- und Sozialbereich andernorts für Kopfschütteln gesorgt haben: Juliane Siegert schilderte beispielsweise eindrücklich, in welche Konflikte zwischen Betriebswirtschaft und sozialem Auftrag die Träger dadurch gedrängt werden, dass sie von der Stadt ausschließlich auf Fallkosten-Basis bezahlt werden. Das heißt, sagt ein Elternteil einen Termin für eine ambulante Hilfe ab, fehlen dem Träger für diese Zeit auf einmal die Einnahmen. Ähnlich verhält es sich im stationären Bereich, also den Heimen. “Eigentlich müssten wir immer 100 % ausgelastet sein.”, fasste Anna Manser zusammen – das will aber natürlich niemand, denn bestenfalls soll jedes Kind so schnell wie möglich in seine Ursprungsfamilie zurückkehren können.

Daneben hörten wir auch von Problemen, die man von außen viel zu selten auf dem Schirm hat: Was passiert beispielsweise, wenn ein Kind, das in einer stationären Einrichtung lebt, von der Schule suspendiert wird? Vormittags haben die Pädagog*innen einer solchen Einrichtung eigentlich frei, da die Kinder in der Schule sind. Doch das beträfe nicht nur die Schule, selbst die Jüngsten würden zum Teil vom Kindergarten suspendiert.

Ansatzpunkte und Verbesserungsvorschläge

Die Ansatzpunkte für Verbesserungen waren vielfältig und leider an mancher Stelle altbekannt. Neben zahlreichen, teilweise nicht zu Ende gedachten, bürokratischen Zusatzanforderungen der Bundes- und Landesebene dominierte vor allem das Thema Schule: Lehrermangel und Überforderung, zu wenige Schulsozialarbeitende, ein Mangel an multiprofessionellen Teams und gleichzeitig immer mehr Schüler*innen mit Förderbedarf ergäben eine ungute Mischung. Das mache die Situation für Kinder, die bereits Hilfen zur Erziehung erhielten, sehr viel schwerer und schaffe mitunter neue Fälle.

Zum anderen gab es viele Punkte, bei denen die Träger unsere Forderungen unterstützten: Halle braucht mehr und bessere Präventionsmaßnahmen, damit die “Feuerwehr” HzE erst gar nicht eingreifen muss. Dazu gehören endlich mehr Freiräume und Treffpunkte, ein günstiger, bestenfalls kostenfreier ÖPNV für Kinder und Jugendliche insbesondere aus benachteiligten Familien, ein besserer Zugang zu und eine gute Betreuung im Kindergarten für nicht-muttersprachliche Kinder. Die Liste wäre zu lang, um sie hier vollständig aufzuführen. Auch Themen wie sozialräumliche Segregation, Schulschwänzen oder Sprachförderung kamen immer wieder auf.

Und so war es wenig verwunderlich, dass Stadtrat Detlef Wend, der gleichzeitig auch Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses ist, an vielen Stellen nickte: “Über Dinge wie Jugendclubs und Freiräume reden wir im Jugendhilfeausschuss seit Jahren, nur umgesetzt sind sie immer noch nicht.” Er verwies aber auch darauf, dass sich in Halle die Katze oftmals in den Schwanz beißt: “Eigentlich bräuchten wir wahrscheinlich mindestens 10 zusätzliche Schulsozialarbeitsstellen.” Nur wolle man die beschließen, werde man schnell wieder mit der “Haushaltskonsolidierung” konfrontiert – von der fehlenden Verantwortungsübernahme des Landes ganz zu schweigen. Und so führe Prävention, die ausbleibt, weil das Geld fehlt, zu Folgekosten beispielsweise im Bereich HzE die alle Einsparungen wieder auffressen.

Fazit

“Ich möchte vor allem einmal festhalten, dass Sie alle in dieser Stadt seit Jahren eine unglaublich tolle, wertvolle Arbeit machen.”, resümierte Stadtrat Detlef Wend. Und der Fraktionsvorsitzende Tom Wolter bedankte sich für die Aufklärung über die Lage der freien Träger in diesem Bereich und auch für die Ansatzpunkte  für mögliche Verbesserungen. Denn Kommunalpolitik lebe davon, dass man mit den Akteuren und nicht nur über sie rede. Dieser Abend sei dafür ein sehr guter Anfang gewesen. Und auch Anna Manser zeigte sich stellvertretend für den Arbeitskreis zufrieden: “Danke, dass sie uns die Gelegenheit gegeben haben, einmal länger als drei Minuten unser Anliegen und unsere Situation zu erklären.” Man bleibe im Gespräch, versicherte Wolter abschließend und versprach, die gewonnenen Erkenntnisse in die Gespräche mit der Verwaltung, die unter anderem im Unterausschuss Haushaltskonsolidierung bevorstünden, mitzunehmen.